- Pflichtverteidigung bei dringend notwendiger Akteneinsicht
- Beiordnung eines ortsfernen Verteidigers
- Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe
- Keine Selbstverteidigungsfähigkeit bei verteidigtem Mitangeklagtem
- Notwendige Pflichtverteidigung bei laufender Betreuung
- Pflichtverteidigung bei Auftreten eines Opferanwalts
- Pflichtverteidigung bei Aussage gegen Aussage
- Drohender Bewährungswiderruf
- Auswechseln des bisherigen Pflichtverteidigers
Drohender Bewährungswiderruf über ein Jahr Freiheitsstrafe
Ein Fall der wegen der Schwere der Tat notwendigen Verteidigung gemäß § 140 StPO liegt in der Regel bereits dann vor, wenn der Angeklagte in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten ohne Bewährung verurteilt worden ist, nur er Berufung eingelegt hat und für den Fall seiner rechtskräftigen Verurteilung mit dem Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von acht Monaten rechnen muss, die insgesamt drohende Freiheitsstrafe somit ein Jahr beträgt.
OLG Nürnberg, Beschluss v. 16.1.2014
Pflichtverteidigung bei Aussage gegen Aussage
Die Schwierigkeit der Sachlage macht die Mitwirkung eines Verteidigers an der Berufungshauptverhandlung in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation notwendig, wenn aus weiteren Indizien allein nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen geschlossen werden kann, so dass eine besondere Glaubwürdigkeitsprüfung erforderlich ist, und weitere, die Beweiswürdigung zusätzlich erschwerende Umstände hinzukommen. In dieser Konstellation kann eine sachgerechte Verteidigung, insbesondere das Aufzeigen von eventuellen Widersprüchen in den Angaben des Belastungszeugen, nur durch Kenntnis des gesamten Akteninhaltes gewährleistet werden. Dieser ist aber — auch nach der Neufassung des § 147 StPO — nur dem Verteidiger zugänglich, so dass in diesem Falle die Bestellung des Pflichtverteidigers unumgänglich ist
KG Berlin, Beschluss v. 25.9.2013
Pflichtverteidigung bei dringend notwendiger Akteneinsicht
Die Sachlage ist schwierig, wenn zur Klärung des Tatvorwurfs der falschen Verdächtigung und der Anstiftung zur Falschaussage zwei Geschehensabläufe zu rekonstruieren und zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, mithin das Tatgeschehen eines früheren Verfahrens inzident geprüft werden muss. Auch wenn ein Angeklagter einen Anspruch auf Auskünfte und Abschriften aus den Verfahrensakten hat, ist ihm ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er selbst nicht in der Lage ist, die für seine Verteidigung relevanten Teile der Akten zu benennen und ihre Bedeutung einzuschätzen
LG Essen, Beschluss v. 9.5.2011
Beiordnung eines ortsfernen Verteidigers
Aus § 142 Abs. 1 s. 1 StPO folgt nicht, dass der Pflichtverteidiger zwingend in dem jeweiligen Gerichtsbezirk ansässig sein muss und die Bestellung eines auswärtigen Verteidigers schlechthin ausgeschlossen ist. Vielmehr ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung, die dem Beschuldigten oder Untergebrachten einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung gibt, unter Abwägung aller Umstände zu prüfen, ob ausnahmsweise die Bestellung eines auswärtigen Pflichtverteidigers in Betracht kommt. Vornehmlich dann, wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, kann das Auswahlermessen des Strafkammervorsitzenden eingeschränkt oder sogar auf Null reduziert sein, so dass die Ablehnung der Bestellung des vom Untergebrachten gewünschten (ggf. ortsfernen) Verteidigers ermessensfehlerhaft sein kann. Ein solches Vertrauensverhältnis kann gegeben sein, wenn der als Pflichtverteidiger gewünschte Rechtsanwalt in dem betreffenden Verfahren bereits zuvor, unter Umständen schon seit längerer Zeit, als Wahlverteidiger für den Untergebrachten tätig war.
OLG Rostock, Beschluss vom 29.1.2008
Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe
Bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe wird — auch wenn es sich hierbei nicht um eine starre Grenze handelt — unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat die Bestellung eines Pflichtverteidigers in aller Regel geboten sein, selbst wenn deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
OLG Saarland, Beschluss v. 15.3.2013
Keine Selbstverteidigungsfähigkeit bei verteidigtem Mitangeklagtem
Sind zwei Angeklagte wegen derselben Tat angeklagt und ist einer von ihnen durch einen Pflichtverteidiger vertreten, so ist auch dem anderen Mitangeklagten zum Zweck der sachgerechten Verteidigung ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Der Angeklagte, dem in solcher Konstellation kein Verteidiger zur Seite steht, ist gegenüber dem Angeklagten, der verteidigt wird, von vorneherein im Nachteil. Während der Mitangeklagte genau über den gegen sie erhobenen Vorwurf, soweit er in den Ermittlungsakten dokumentiert ist, über seinen Verteidiger, der jederzeit Akteneinsicht erhalten kann, informiert ist und seine Einlassung daran ausrichten kann, hätte der weitere Mitangeklagte diese Möglichkeit nicht.
LG Magdeburg, Beschluss v, 29.9.2010
Notwendige Pflichtverteidigung bei laufender Betreuung
Die Aufgaben eines Betreuers und die eines Verteidigers unterscheiden sich grundlegend. Die Tatsache, dass dem Verurteilten ein Rechtsanwalt als Betreuer bestellt ist, ändert daher nichts an der notwendigen Pflichtverteidigung, die in solchen Fällen der laufenden Betreuung grundsätzlich gegeben ist.
OLG Nürnberg, Beschluss v. 25.7.2007
Pflichtverteidigung bei Auftreten eines Opferanwalts
Nach § 140 Abs. 2 StPO ist die Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Angeklagten u. a. dann geboten, wenn ersichtlich ist, dass dieser sich nicht selbst verteidigen kann, „namentlich, weil dem Verletzten nach den §§ 397a und 406g Abs. 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist”. Die Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Angeklagten kann im Einzelfall aber auch durch einen auf eigene Kosten des Verletzten tätig werdenden Anwalt drohen
OLG Köln, Beschluss v. 3.12.2010
Auswechseln des bisherigen Pflichtverteidigers
Die Auswechslung eines Pflichtverteidigers bei Fehlen eines wichtigen Grundes ist nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens dann geboten, wenn der bisher beigeordnete notwendige Verteidiger mit einer Entbindung von der Pflichtverteidigung einverstanden ist und durch die Beiordnung des neuen Verteidigers weder eine Verfahrensverzögerung noch Mehrkosten für die Staatskasse verursacht werden.
OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 27.4.2010